Über Calisthenics und Freeletics

Von Jan Markus Adams7_DSC3735

“Between 7am -10am, he would do calisthenics, consisting of Indian style squats in very high sets of 100 reps, often 2000 (20 sets) per day, followed by Cat/Hindu style push-ups done similarly.”

[Sir Atholl Oakley über den Ringer Ghulam “The Great Gama” Muhammad (+ 1960)]

 

Häufig schon wurde ich gefragt, was ich von Calisthenics halte, insbesondere, wenn ich gerade mein Trainingskonzept erläutert hatte, das nahezu ohne Trainingsgeräte auskommt. Wer diese Frage stellt, geht üblicherweise davon aus über ein neuartiges amerikanisches Trainingssystem zu sprechen. Nichts könnte weiter von der Realität entfernt sein.

Zunächst mal halte ich sehr viel von Calisthenics, man kann damit Kraft und Muskelmasse aufbauen, Fett verbrennen, praktische, wie auch beeindruckende körperliche Fähigkeiten erwerben. Oder einfach nur im Wald, in Parks oder auf Spielplätzen an der frischen Luft herumturnen und eine verdammt gute Zeit haben!

Das Verständnis von Calisthenics geht jedoch in verschiedene Richtungen und teilweise weit auseinander, daher werde ich nun eine kleine Begriffsklärung durchführen.

Eine kurze Geschichte des kalisthenischen Trainings

Die Videos von Hannibal und Barilla haben seit ihrem Erscheinen vor enigen Jahren nichts von ihrer Imposanz eingebüßt und auch Frank Medrano vermag Unglaubliches zu leisten. Doch seit den 50er Jahren hat niemand Jasper Benincasas ‚Close to Impossible‘ zu wiederholen vermocht. Dabei ‚hängt‘ man mit waagerecht und parallel gehaltenen Armen am Reck während die Füße in der Luft schweben. Benincasa war Bauarbeiter und trainierte in seiner Freizeit mit Freunden am Strand. Und lange vor ihm trainierte der Boxweltmeister im Schwergewicht, Jack ‘The Manassa Mauler’ Dempsey mit Kniebeugen, Liegestützen, Klimmzügen und der Ringerbrücke.

Calisthenics bei den Hellenen

Die Ursprünge der Calisthenics reichen jedoch zurück bis in die griechische Antike. Bereits bei der Schlacht an den Thermopylen, 480 v. Chr., meldeten persische Kundschafter, dass die Spartaner jeden Morgen vor dem Kämpfen ein Trainingsprogramm absolvierten.

Der Begriff Calisthenics wird gebildet aus den griechischen Wörtern kalos– „schön“ und sthenos– „stark“. Kern des Trainingssystems ist es den Körper nach einem ästhetischen und funktionellen Ideal zu formen. Wie dies zu geschehen hat, ist nicht vorgegeben. Das Ziel ist maßgeblich. Und dieses bestand für die Hellenen darin sich gesund zu halten und für den jeweiligen Heimatstadtstaat kämpfen zu können. Für die Philosophen Sokrates und Platon war es selbstverständlich in Kriegen Athens zu kämpfen, wenn nicht gerade auf dem Marktplatz oder auf dem Ringkampfplatz Politik gemacht wurde.

Da die Zielsetzung des Kämpfens die Funktionalität des Trainings bestimmte, wurde neben dem Ringen alles praktiziert, was heutzutage als Leichtathletik gilt: Laufen, Springen, Werfen. Zusätzlich wurden gymnastische Übungen absolviert. Doch auch der antike Begriff ‚Gymnastik‘ ist als Training nicht näher definiert. Er bedeutet frei übersetzt ungefähr soviel wie ‚Nacktturnen‘. Da den Spartanern bewusst war, wie förderlich eine gute Trainingsatmosphäre sein kann, absolvierten sie ihre Übungen zu einer Hintergrundmusik, aus Flöten und Trommeln. Somit liegt die Feutung nahe, dass die reinen Körperübungen nach gewissen Rhythmen ausgeführt wurden.

…und bei den Indern…

Surya Namsakar, der Sonnengruß beim Yoga, könnte eine Vorstellung davon liefern wie klassische kalisthenische Übungen praktiziert wurden. Er besteht aus einer Abfolge von Yogahaltungen, die rhythmisch und an die Atmung angepasst ausgeführt werden. Sein Alter ist jedoch nicht bekannt und erste Erwähnungen des Yoga um 500 v. Chr. definieren es als Meditationssystem und nicht, wie heute ausgeübt, als System von Körperübungen.

_CBL2578
Hindu Squats (Bethaks)

Die im einleitenden Zitat erwähnten Übungen Hindu Squats und Hindu Pushups sind ebenso beispielhaft für das Prinzip des kalisthenischen Trainings. Sie sind rhythmisch und die Bewegungsabfolge wird von Ein- und Ausatmen bestimmt. Zusammen sind sie die wichtigsten

Hindu Pushups (Dands)
Hindu Pushups (Dands)

Kräftigungsübungen indischer und persischer Ringer und werden nachweislich seit Jahrhunderten praktiziert. Die Quellen zur indischen Körperkultur reichen soweit zurück, dass Vermutungen geäußert wurden, Alexander der Große habe durch seinen Indienfeldzug im Jahre 326 v. Chr. Aspekte der griechischen Lebensweise exportiert und Einfluss darauf genommen.

Verschwand die Körperkultur in Griechenland durch das Erstarken des römischen Imperiums, wurde sie in Indien im Laufe der Jahrhunderte gepflegt und verbessert, bis sie durch die britische Kolonialzeit binnen kürzester Zeit nahezu ausgelöscht wurde und lediglich bruchstückhaft durch das Yoga erhalten blieb. Ein Denkmal wurde ihr von Mujumdar gesetzt, der 1950 das 700 Seiten starke Werk ‚Encyclopedia of Indian Physical Culture‘ verfasste.

Moderne Calisthenics

In den letzten Jahren haben Calisthenics wieder an Beliebtheit gewonnen. Jedoch meint man damit nun Turnübungen sowie Kraftübungen, die ohne Geräte ausgeführt werden. Ein eifriger Verfechter ihrer Effektivität ist der amerikanische Autor von ‚Convict Conditioning‘ Paul ‚Coach‘ Wade, der nicht müde wird ihre uralte Tradition zu betonen. Dabei beruft er sich gerne auf alte Strongmen wie Sandow, Saxon und Goerner, die, seiner Meinung nach, ihre unmenschliche Kraft durch Calisthenics erlangt haben. Hätte er ihre Bücher gelesen, wüsste er jedoch, dass das nicht stimmt. Seine Ideen im Hinblick auf Trainingsgestaltung sind zwar sehr gut, doch abgesehen von der romantischen Darstellung von Gefängnis und Verbrechern, sind seine Herleitungen eine Schwachstelle. Bei seiner verklärten Darstellungsweise kommt zuweilen die Frage auf, ob die Spartaner oder indischen Ringer oder Strongmen auf ihre Art und Weise trainierten, weil diese die bestmögliche ist oder bloß, weil sie nichts anderes kannten oder hatten. Vielleicht hätten sich die 300 Spartaner an den Thermopylen lieber durch eine HIT-Einheit mit der Nautilus-Gerätekollektion auf die Schlacht eingestimmt. Vielleicht hätten sie das sinnvoller gefunden…

Auch der Autor Mark Lauren erhielt Anerkennung für sein Buch ‚Fit ohne Geräte‘. Darin listet er eine Unmenge von Übungen auf, aus denen der Leser ein sinnvolles Training gestalten soll. Für sich genommen, sind die Übungen gut, insbesondere im physiotherapeutischen Bereich und im Rehasport. Aber die Spartaner haben bei den Thermopylen ganz sicher nicht die Standwaage absolviert. Ganz sicher!

Das Produkt Freeletics

Wenn ich vergangenen Sommer im Wald trainierte, wurde ich des Öfteren gefragt, ob ich Freeletics betreibe. Nein!

Freeletics ist ein Markenname, eine App, die Trainingsprogramme aufs Smartphone sendet. Diese Programme bestehen aus einer Aneinanderreihung kalisthenischer Übungen, die schnellstmöglich absolviert werden sollen. Je schneller das Training vorbei ist und je höher der Puls dabei geht, desto besser. Dabei wird vorausgesetzt, dass die Käufer, die jeweiligen Übungen schon irgendwie beherrschen werden. Zuweilen kommen dadurch abenteuerliche Interpretationen gewisser Übungen zustande. Zu vergleichen mit einem Laienmusiker, der ohne Noten eine ihm bekannte Melodie nachspielen möchte. Sicher wird er mit dem Ergebnis leidlich zufrieden sein. Doch wehe dem Zuhörer…

Ich habe vergangenen Sommer im Wald und in Parks häufig junge Männer mit ihrem Handy trainieren sehen. Keiner von denen hat einen sauberen Liegestütz gemacht, eine anständige Kniebeuge oder einen richtigen Burpee. Sich auf den Bauch plumpsen lassen und dann hoch hüpfen ist kein Burpee. Wenn die Knie beim Beugen nach innen einknicken, kräftigt man nicht die Beine, sondern ruiniert die Knie. Und wenn der Kopf ohne jegliche Spannung nach unten hängt, macht man keine Liegestütze, sondern Irgendwas mit Kopf hängen lassen.

Über das Training mit Freeletics

Hat man Freude daran sich an der frischen Luft zu bewegen und zu verausgaben, ist das Training klasse! Dann erreicht man sein Ziel, wenn man so trainiert. Doch die verwendeten Übungen sind weitaus komplexer als gemeinhin vermutet wird. Die Verletzungsgefahr bei schlechter Ausführung ist zwar weitaus geringer als immer wieder behauptet wird, der Nutzen steigt bei korrekter Technik jedoch enorm. Dazu gilt es unter anderem die Gelenke zu verriegeln um Sehnen und Bänder zu stabilisieren und die Atmung zu kontrollieren.

Will man den Körper nachhaltig kräftigen, bedeutet das zudem, ihn allmählich an Belastungen zu gewöhnen. Belastungen der Bänder und Gelenke, der Knochen und Muskeln, von Herz und Lunge und des Zentralen Nervensystems. Ist ein Training darauf ausgelegt, schnellstmöglich erledigt zu sein, gehen schlechte Übungsausführung und Verletzungen Hand in Hand. Außerdem führt dieser Weg häufig zu einer Erschöpfung des Zentralen Nervensystems, was meist daran deutlich wird, das Fernsehen wieder wichtiger wird als Trainieren.

Beherrscht man die saubere und kontrollierte Ausführung von 50 Kniebeugen, kann ein sinnvoller Aspekt der Leistungssteigerung darin liegen, die Dauer zu verkürzen. Doch verläuft dieser Prozess zu schnell wird womöglich eine Leistungsminderung die Folge sein, im schlimmsten Falle verletzungsbedingt. Besser sollte man trainieren wie ein Musiker, der ein Stück kennen lernt und es zu verstehen versucht, ehe er eigene Interpretationen spielt.

Fazit

Zusammenfassend gesagt, Freeletics ist eine Marke und wenn jemand Freude hat damit zu trainieren, ist das wunderbar! Hat man jedoch nennenswerte Ziele für sich und den eigenen Körper, gibt es bessere Wege diese zu erreichen. Calisthenics meint ein Trainingssystem, das den eigenen Körper nutzt um diesen zu stärken. Korrekt ausgeführt wachsen die Muskeln und man erlangt Zuversicht in die eigenen Fähigkeiten, sowie Koordination, Gleichgewicht, ein kräftiges Herz und starke Lungen. Moderne kalisthenische Übungen sind linear ausgeführte Bewegungen, die überwiegend die Kraft fördern und das Potential zum Muskelaufbau besitzen. Klassische kalisthenische Übungen sind rhythmische Bewegungen, die über viele Wiederholungen und die Atmung beachtend ausgeführt werden und dadurch neben der Muskelausdauer auch das Herz-Kreislaufsystem und die inneren Organe kräftigen.

Doch ganz gleich, ob man bouldert, boxt, Gewichte stemmt, joggt oder an einem schönen Frühlingsmorgen spazieren geht, das alles sind Ausdrucksformen des Körpers und die beste ist jene, welche am meisten Freude bereitet.

_CBL2374

 

One Comment on “Über Calisthenics und Freeletics

  1. Pingback: …and in walked the Hindoos – Jan Markus Adams

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert